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Abschätzungen
Wir haben bisher Verfahren kennengelernt, Wahrscheinlichkeiten auszurechnen, wenn eine konkrete Verteilung vorliegt. Einige dieser Verteilungen lassen sich „aus der Natur heraus“ erklären – wie die Binomial, die Hypergeometrische, die geometrische, die Multinomial-, die diskrete und die stetige Gleichverteilung – andere müssen dem Benutzer gegeben sein, so wie die Normal- die Poisson- und die Exponentialverteilung.
Wenn nun die Verteilung einer Zufallsvariablen nicht bekannt ist, so ist es nicht möglich, Wahrscheinlichkeiten exakt zu berechnen. Trotzdem hat man in manchen Fällen Glück und kann gewisse Wahrscheinlichkeiten zumindest abschätzen. Hierzu dient die Tschebyscheffsche Ungleichung. Wichtig ist, dass man die Voraussetzungen überprüft. Das Vorgehen erläutet das nachfolgende
Schema Tschebyscheffsche Ungleichung
Methode
Voraussetzungen
die konkrete Verteilung ist unbekannt
Erwartungswert µ und Varianz σ2 hingegen sind bekannt.
es ist gefragt nach einer Mindest- oder nach einer Höchstwahrscheinlichkeit, nicht danach, eine Wahrscheinlichkeit exakt zu berechnen.
der fragliche Bereich, über den eine Wahrscheinlichkeitsaussage gemacht werden soll, liegt symmetrisch um den Erwartungswert µ herum. Rechts und links um den Erwartungswert herum beträgt die Länge des fraglichen Bereichs genau ε bzw. k·σ.
Anwendung der Ungleichung
1. Fall
verbal: dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Zufallsvariable X vom eigenen Erwartungswert µ um höchstens ε abweicht, mindestens 1 - $\frac{\sigma ^2}{\varepsilon ^2}$
in Formeln: P(|X - μ|
2. Fall
verbal: die Wahrscheinlichkeit, dass die Zufallsvariable X vom eigenen Erwartungswert um mindestens abweicht, beträgt höchstens $\frac{\sigma ^2}{\varepsilon ^2}$
in Formeln: P(|X - μ| > ε) ≤ $\frac{\sigma ^2}{\varepsilon ^2}$.
Merke
Merke
im Fall 1 ist es entscheidend, dass die Wahrscheinlichkeiten nicht ungefähr 1 - $\frac{\sigma ^2}{\varepsilon ^2}$ ist, sondern irgendwo rechts von dieser Zahl liegt (und klarerweise kleiner oder gleich 1 ist). Gleiches gilt für Fall 2 mit der Zahl $\frac{\sigma ^2}{\varepsilon ^2}$. Hier ist die Wahrscheinlichkeit nicht ungefähr gleich diese Zahl, sondern liegt links hiervon (und ist größer oder gleich null)
Die Tschebyscheffsche Ungleichung ist also eine Abschätzung, keine Schätzung!
Beispiele
Beispiel
Beispiel 1:
Lässt sich etwas über die Wahrscheinlichkeit aussagen, dass eine Zufallsvariable, deren Verteilung unbekannt ist, die aber den Erwartungswert von 5 und die Streuung von 1 hat, zwischen 3 und 7 liegt?
Lösung:
Gefragt ist also nach einer Aussage über P(3 ≤ X ≤ 7). Dies lässt sich umrechnen in
P(3 ≤ X ≤ 7) = P(3 – 5 ≤ X – 5 ≤ 7 – 5)
= P(- 2 ≤ X – 5 ≤ 2)
= P(|X – 5| ≤ 2).
Damit ist genau die Gestalt der Tschebyscheffschen Ungleichung erreicht. Der Erwartungswert μ ist 5, der Abstand ε zwischen den Grenzen 3 und 7 zu diesem Wert ist jeweils genau ε = 2 (und also liegt 5 in der Mitte des fraglichen Bereichs!) und die Streuung lautet σ = 1. Also
P(|X – 5| < 2) ≥ 1 - = 1 - = 0,75.
Damit liegt die gefragte Wahrscheinlichkeit zwischen 0,75 und 1.
Beispiel
Beispiel 2:
Was kann man über die Wahrscheinlichkeit aussagen, dass eine Zufallsvariable X, deren Verteilung unbekannt ist, deren Erwartungswert μ und deren Varianz σ2 hingegen bekannt sind, um mehr als das Doppelte ihrer eigenen Streuung vom Erwartungswert abweicht?
Lösung:
Hier ist die Abweichung vom Erwartungswert μ genau ε = 2·σ. Damit rechnet man
P(|X – μ| > 2·σ) ≤ = $\frac{\sigma ^2}{(2\;\cdot \;\sigma )^2}$ = $\frac{\sigma ^2}{4\;\cdot \;\sigma ^2}$ = $\frac 1 4$ = 0,25.
An dieser Stelle lässt sich wegen ε = k·σ eine leicht anders aussehende Darstellung der Tschebyscheffschen Ungleichung angeben.
Fall 1
verbal: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Zufallsvariable X vom eigenen Erwartungswert um höchstens das k-fache der eigenen Streuung σ abweicht, ist mindestens 1 - $\frac 1{k^2}$.
in Formeln: P(|X – μ| ≤ k·σ) ≥ 1 - $\frac 1{k^2}$.
Fall 2
Verbal: Genauso ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Zufallsvariable X vom eigenen Erwartungswert μ um mindestens das k-fache der eigenen Streuung σ abweicht, höchstens $\frac 1{k^2}$.
In Formeln: P(|X – μ| ≥ k·σ) ≤ $\frac 1{k^2}$.
Interessant ist nun zu beobachten, was passiert, wenn eine konkrete Verteilung bekannt ist. Dazu eine Erweiterung der obigen Aufgabe:
Beispiel
Beispiel 3:
Im Beispiel 1 sei nachträglich bekannt geworden, dass die Zufallsvariable X normalverteilt ist mit dem Erwartungswert 5 und der Streuung 1, dass also X ~ N(5; 1) gilt.
Dann kann man die Wahrscheinlichkeit für das fragliche Ereignis genau ausrechnen:
P(|X – 5| ≤ 2) = P(3 ≤ X ≤ 7)
= P( $\frac{3\;-\;5} 1$ ≤ XSt ≤ $\frac{7\;-\;5} 1$ )
= P( - 2 ≤ XSt ≤ 2)
= Ф(2) – Ф(- 2)
= Ф(2) – [1 – Ф(2)]
= 2·Ф(2) – 1
= 2·0,9772 – 1
= 0,9544.
Merke
Merke
die gute Nachricht damit zuerst: die Aussage der Tschebyscheffschen Ungleichung, dass die gesuchte Wahrscheinlichkeit größer als 0,75 ist, war richtig.
die schlechte Nachricht: die Wahrscheinlichkeit kann dann nochmal sehr weit weg liegen von 0,75. Hieran wird am Beispiel die obige Aussage klar, dass die Tschebyscheffsche Ungleichung eine Abschätzung, hingegen keine Schätzung ist.
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Aufgabe 1 (Richtig-Falsch-Fragen Tschebyscheffsche Ungleichung)
Die folgenden Aussagen sind richtig oder falsch. Entscheide.
a) Die Tschebyscheffsche ist eine Schätzung und nicht lediglich eine Abschätzung, wenn die Zufallsvariable normalverteilt ist.
b) Wenn man die Tschebyscheffsche Ungleichung rechnet und hinterher als Zusatzinformation erfährt, dass der Verteilungstyp doch bekannt ist und die gesuchte Wahrscheinlichkeit mit dieser Zusatzinformation nochmals ausrechnet, dann kann die Aussage der Tschebyscheffschen Ungleichung manchmal als verkehrt angesehen werden.
c) Die Tschebyscheffsche Ungleichung kann auch solche Ergebnisse liefern wie P(|X – μ| ≥ ε) ≤ $\frac{\sigma ^2}{\varepsilon ^2}$ = 1,6, d.h. eine Tautologie, denn dass eine Wahrscheinlichkeit kleiner oder gleich 1,6 ist, ist sowieso immer richtig, denn sie liegt ja zwischen 0 und 1.
Vertiefung
Lösung:
a) Die Tschebyscheffsche ist eine Schätzung und nicht lediglich eine Abschätzung, wenn die Zufallsvariable normalverteilt ist.
Falsch, sie ist lediglich eine Abschätzung, nämlich dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit entweder größer oder gleich bzw. kleiner oder gleich einer gewissen Zahl ist. Dies sagt aber niemals, dass die gesuchte Wahrscheinlichkeit in der Nähe dieser Zahl liegt. Darüber hinaus ist die Tschebyscheffsche Ungleichung unnötig, wenn der Verteilungstyp der Zufallsvariable bekannt ist, so wie hier, wenn sie speziell normalverteilt ist. Man kann dann die gesuchte Wahrscheinlichkeit exakt ausrechnen.
b) Wenn man die Tschebyscheffsche Ungleichung rechnet und hinterher als Zusatzinformation erfährt, dass der Verteilungstyp doch bekannt ist und die gesuchte Wahrscheinlichkeit mit dieser Zusatzinformation nochmals ausrechnet, dann kann die Aussage der Tschebyscheffschen Ungleichung manchmal als verkehrt angesehen werden.
Falsch, sie bleibt richtig. Wenn man mit Tschebyscheff ausgerechnet hat, dass P(|X – μ| ≥ ε) ≤ 0,63, dann kann das exakte Ergebnis hinterher nur zwischen 0 und 0,63 liegen.
c) Die Tschebyscheffsche Ungleichung kann auch solche Ergebnisse liefern wie P(|X – μ| ≥ ε) ≤ $\frac{\sigma ^2}{\varepsilon ^2}$ = 1,6, d.h. eine Tautologie, denn dass eine Wahrscheinlichkeit kleiner oder gleich 1,6 ist, ist sowieso immer richtig, denn sie liegt ja zwischen 0 und 1.
Richtig.
Rechnen wir zum Abschluss des Kapitels über die Tschebyscheffsche Ungleichung noch ein Beispiel, damit sich die Methode festigt – denn sie ist in Klausuren immer identisch!
Beispiel
Beispiel
Es sei X die Temperatur in der sonnigen Kleinstadt B an einem beliebigen Tag. Der Erwartungswert der Temperatur ist 20°C bei einer Streuung von 50°C.
a) Schätze die Wahrscheinlichkeit ab, dass an einem beliebigen Tag die Temperatur in der Stadt zwischen 14° und 26°C liegt.
b) Lässt sich mit Hilfe der Tschebyscheffschen Ungleichung eine Abschätzung im Bereich von 14° bis 35°C finden?
a) Die genaue Verteilung ist unbekannt, Erwartungswert und Streuung hingegen bekannt. Weiterhin liegt der Erwartungswert von 20°C genau in der Mitte von 14° und 26°C. Darüber hinaus ist lediglich nach einer Abschätzung gefragt, nicht nach einer Schätzung oder genauen Berechnung der Wahrscheinlichkeit. Man rechnet daher mit der Tschebyscheffschen Ungleichung. Es gilt
P(14 ≤ X ≤ 26) = P(14 - 20 ≤ X – 20 ≤ 26 - 20)
= P(- 6 ≤ X – 20 ≤ 6)
= P(|X – 20| ≤ 6).
Diesen Ausdruck schätzt man mit der Tschebyscheffschen Ungleichung für ε = 6 ab. Wegen P(|X – μ| ≤ ε) ≥ $\frac{\sigma ^2}{\varepsilon ^2}$ gilt
P(|X – 20| ≤ 6) ≥ 1 - $\frac{\sigma ^2}{\varepsilon ^2}$
= 0,3056.
Die gesuchte Wahrscheinlichkeit liegt also mindestens bei 0,3056.
b) Da der Erwartungswert von 20° nicht exakt in der Mitte des Bereiches von 14° und 35° liegt, lässt sich mit der Tschebyscheffschen Ungleichung keine Abschätzung für den fraglichen Bereich vornehmen.
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